Der Schrei Jesu



“Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”

Die Worte von Jesus Christus, die er in seiner schwersten Stunde zu seinem Vater rief, haben mich tief berührt.
Ich habe in einer Gemeinde Missbrauch vonseiten der Leiterschaft erleben müssen. Als ich mir dessen bewusst wurde, fiel ich in ein tiefes Loch der Einsamkeit.

Aus Psalm 102:
Herr, höre mein Gebet und lass mein Schreien zu dir kommen!
Ich bin wie eine Eule in der Einöde, wie das Käuzchen in den Trümmern.
Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.

Da waren einerseits die Leute, die schon vor mir aus jener Gemeinde weggegangen waren. Sie zu treffen bedeutete, immer wieder die Geschehnisse zu diskutieren. Es fielen Worte wie: “Du bist doch selber schuld, nicht schon eher weggegangen zu sein. Warum bist du nur so lange geblieben? Wir haben schon längst erkannt, dass dort etwas nicht in Ordnung ist! Es wäre für dich sicher auch schon eher “dran gewesen wegzugehen.”. Wie schnell und besserwisserisch klangen ihre Worte in meinen Ohren. “Redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören” (Eph.4/29).
Einige von ihnen wollte mich außerdem sofort wieder in neue Gottesdienste einladen, wo es angeblich viel besser sei. Sie könnten es mir so empfehlen!
Mein Schmerz war so groß, ich konnte es nicht ertragen, immer wieder über die Erfahrungen zu diskutieren. Dazu noch Vorwürfe. Die “Empfehlung” recht bald neue Gemeinden zu besuchen empfand ich zusätzlich als Überforderung, da dadurch neuer Druck auf mich ausgeübt wurde. Ich suchte Ruhe.

Die zweite Gruppe von Leuten waren meine Verwandten. Sie hatten miterlebt, wie ich aus der Kirche, in der ich groß geworden war, ausgetreten und in eine neue Gemeinde eingetreten war. Schon damals hatten sie dies nicht verstehen können. Sie hatten mir vorgeworfen: “Du glaubst wohl, etwas Besseres zu sein? Du bist wohl heiliger als wir?” Ich bekam in jener Zeit viel Ablehnung spüren bis hin zu lauten und bösen Worten. “Aber weil sie sich nur an sich selbst messen und mit sich selbst vergleichen, verstehen sie nichts.” (2.Kor. 10/12b).
Später dann ignorierten sie zwar die Situation scheinbar, doch nun, nachdem ich auch diese neue Gemeinde verlassen hatte, fielen Worte wie: “Wir haben dir doch gleich gesagt, dass du in eine Sekte geraten bist. Hättest du nur auf uns gehört.”

Eine letzte Gruppe schließlich waren Freunde und Bekannte, die nicht an Jesus glaubten. Sie spöttelten über meine Enttäuschung und benutzten die Situation, um mir zu “beweisen”, dass so etwas ihnen natürlich nicht passieren kann, weil sie sich mit diesem “christlichen Kram” erst gar nicht einlassen. Und Christen, die sich ja für soviel besser halten als andere Leute, seien in Wirklichkeit eben doch viel schlimmer als Nichtchristen. Ich spürte ihre Schadenfreude und wie überlegen sie sich mir gegenüber fühlten. “Ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich” (Jer.20/7b); “Jetzt bin ich ihr Spottlied geworden (Hiob 30/9).

Bald wagte ich nicht mehr, mit irgend jemanden über meine Erfahrung zu sprechen. So wurde ich sehr einsam und zog mich innerlich von fast allen Menschen zurück.

Ich kam zusätzlich in einen Zwiespalt: Ich fühlte mich einerseits von Gott im Stich gelassen, weil ich nicht verstand, warum mich nach dem erlittenen Missbrauch in der Gemeinde nun noch diese “Folgeerscheinungen “ quälen mussten. Wieso liess Gott dies zu? Wo war er? Zwar sagte mir mein Verstand, dass mein himmlischer Vater immer für mich da ist und Gutes für mich will, doch mein Herz fühlte nur Leere. Andererseits wurde ich genau deshalb von Schuldgefühlen geplagt, weil ich Gott nicht verstand und ihm in meinem Innern Vorwürfe zu machen begann. Ich müsste ihm doch viel mehr vertrauen!

Während dieser Wochen geschah es, dass die Worte Jesu am Kreuz eine neue und große Bedeutung für mich bekamen. Ich begann zu begreifen, dass Jesus mich versteht, dass er genau die Schmerzen, durch die ich ging, schon am Kreuz gelitten hat. Dass er die Schreie meines Herzens, meine Verzweiflung genau kennt. Und Jesus hat seine Gefühle der Verlassenheit seinem Vater zugerufen! Er hat diese Worte als Frage formuliert: WARUM?
Jesus wusste genau, dass sein Vater ihn zu keinem Zeitpunkt verlassen hat, er wusste schon um seine Auferstehung und die Rückkehr zum Vater. Jesus hatte auch die Antwort auf die Frage nach seinem Leiden schon im Voraus, denn der Heilsplan Gottes zur Erlösung seiner Geschöpfe war Jesus bekannt. Und trotzdem hat er in seiner Verzweiflung die Frage: Mein Gott, warum hast du mich verlassen” hinausgeschrieen! In Hebräer Kapitel 5 Vers 7 steht geschrieben: “Und er (Jesus) hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden.”

Als ich dies erkannte, wandelte sich meine Selbstanklage in die Gewissheit, dass auch ich in meinen Nöten zu Gott schreien darf. Wenn Jesus in seiner Qual so rufen und fragen durfte, dann durfte ich das auch! Ich kann meinem Vater alle Fragen, Zweifel und Enttäuschungen sagen. “Daran erkennen wir, dass wir aus der Warheit sind, und können unser Herz vor ihm damit zum Schweigen bringen, dass, wenn uns unser Herz verdammt, Gott größer ist als unser Herz und kennt alle Dinge.” (1.Joh. 3/19).
In den Stunden tiefer innerer Einsamkeit begann auch ich wie Jesus zu Gott schreien: Wo bist du, Gott? Und derVater hat mich deshalb nicht verachtet oder abgelehnt, so wie er auch Jesus nicht anklagte. “Ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott nicht verachten.” (Psalm 51/ 19b).

Mit diesem Erkennen begannen sich meine Gedanken und Gefühle langsam zu ordnen. Ich durfte vor dem Vater wirklich so sein, wie ich bin. Auch meine Enttäuschungen vonseiten der Menschen, und dass ich in meinem Herzen keine Vergebung für sie hatte, gestand ich mir selbst und dem Vater im Gebet ein. Dies hat mir sehr geholfen. Alle frommen Zwänge fielen von mir ab. Und in den folgenden Tagen spürte ich Ruhe und Frieden in mir wachsen, wenn sich auch die Umstände nicht geändert hatten. Ich fühlte die Wahrheit aus Psalm 131 Vers 2: “Meine Seele ist still und ruhig geworden.”

“Da sah er ihre Not an, als er ihre Klage hörte. (Psalm 106/44). “Er wendet sich zum Gebet der Verlassenen und verschmäht ihr Gebet nicht. (Psalm 102 /18).Mein Klagen und Schreien wurde erhört, Gott ist treu. Er ist “ein Gott, der die Einsamen nach Haus bringt” (Psalm 68/7). Er führte mich unter anderm durch die website cleansed.de mit neuenMenschen zusammen, die ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht haben. Durch die Möglichkeit der Anonymität lernte ich behutsam, mich neu zu öffnen, zu erzählen oder zuzuhören. Das ist für mich ein kostbares Geschenk von Jesus, denn er befähigte mich, trotz der Erfahrungen der Vergangenheit, neues Vertrauen aufzubauen. “Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus” (2.Kor. 3/4).
Wenn ich manche der Erfahrungsberichte dieser Seite lese, dann nehme ich in meinem Innern den Schrei des Herrn zum Vater über das persönliche Leid gerade dieses seines Kindes wahr. Ich stelle mir dann vor, wie Jesus mitweint und mitfühlt.

Es ist für mich ermutigend, wie immer mehr “Betroffene” es wagen, ihr Schweigen über Erlebtes zu brechen. Und ich bin überzeugt, dass Jesus das auch will: “Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.” (Lukas 19/40)
Gott wird nicht für immer zusehen, wie seine Kinder verletzt und misshandelt werden. “Unser Gott kommt und schweiget nicht.” (Psalm 50/3)
Früher oder später wird sich herausstellen, dass die Missbraucher verlorene Toren sind: “Aber sie werden es nicht mehr viel weiter bringen; denn ihre Torheit wird jedermann offenbar werden, wie es auch bei jenen der Fall war (Jannes und Jambres: Hinweis von Paulus auf zwei ägyptische Männer, die das Volk zu falscher Anbetung verführten, verführerische Zeichen taten und falsche Reden führten; 2.Thimoteus 3/9)
Das gibt mir viel Hoffnung, und Frieden durchweht meine Seele. Ich begreife, dass Gott zu jeder Zeit, in jeder Situation “alles im Griff” hat und er wird seinen Kindern Recht schaffen:
“Gib Rechenschaft über deine Verwaltung: denn du kannst hinfort nicht Verwalter sein.”(Lukas 16/2)




Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”


Jesus, diese Worte schriest du am Kreuz.
Du littest Schmerzen.
Du fühltest Einsamkeit.
Du wurdest verspottet.
Du trugst die Wunden ihrer Schläge an deinem Leib.
Du schriest den Schmerz deines Leibes und deiner Seele laut hinaus.
Du riefst zu deinem Vater im Himmel.
Du fühltest dich verlassen von ihm.

“Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”
Ich rufe es zu dir, mein Vater.
Ich leide Schmerzen, weil Menschen mich benutzt haben.
Sie durchbohrten mir nicht die Hände, aber ihre harten Worte durchbohrten meine Seele.
Ihre Verurteilung spüre ich wie Peitschenhiebe an meinem Herzen.
Die Blicke ihrer Augen waren wie Schläge in mein Angesicht.

“Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”
Nun bin ich geflüchtet aus ihrer Nähe.
Doch ich ängstige mich, ihnen wieder zu begegnen.

“Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”
Ich habe keinen Menschen mehr, dem ich vertraue.
Ich habe keinen Menschen mehr, der mich versteht.
Ich fühle mich einsam.
“Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”


Jesus, du hast empfunden wie ich.
Jesus, du kennst meine Schmerzen, weil du sie spürtest am Kreuz.
Jesus, du kennst meine Angst, weil du sie erlebt hast im Garten Gethsemane.
Jesus, du kennst meinen Durst, weil du sogar Essig nahmst, um ihn zu stillen.
Jesus, du kennst meine Einsamkeit, weil du am Kreuz ganz allein gelitten hast.
Jesus, du kennst meine Wunden, weil dein Körper geblutet hat.
Jesus, du schriest zum Vater, deshalb darf auch ich in meiner Not zu ihm rufen.

Ich will deine Hand ergreifen, Jesus.
Ich will mich jetzt nur in deiner Nähe bergen, Jesus.
Ich will mich an dich lehnen, Jesus.
Ich will mit dir, Jesus, zum Vater gehen und mich trösten lassen.


Mein Gott, du hörst meinen Ruf.
Mein Gott, du verstehst meine Fragen.
Mein Gott, du hast mich nicht verlassen.
Du bist immer da.
Du schaffst Gerechtigkeit.