Ramona:       Aus den Tagebuchaufzeichnungen eines Schafes

Heute habe ich einen reichen Bauern kennen gelernt. Er ist wirklich sehr reich. Ihm gehören sehr viele Schafe. Und der Bauer ist sehr klug. Jedes seiner vielen Schafe hier kennt er mit Namen. Ich durfte auf dem Schoß des Bauern sitzen. Ich fühlte mich geborgen und angenommen. Seine starken Arme hatte er liebevoll um meinen Körper gelegt. Und ich habe mich sehr wohlgefühlt.
Wie ich dahin gekommen bin? Sein Sohn, der Hirte seiner vielen Schafe, hat mich zu ihm geführt. Ich habe ihn kennen gelernt, als ich müde und traurig am Rande einer großen Wiese lag. Dort hat mich der liebe Hirte gefunden. Erst hatte ich Angst, als ich ihn sah. Er sah so groß und wunderbar aus. Ich schämte mich, weil ich so schmutzig gewesen bin. Mein Fell war unordentlich, Wunden bedeckten meinen Körper. Doch als ich in seine Augen sah, die er liebevoll auf mich gerichtet hatte, fasste ich Mut und Hoffnung.
Der Hirte trug mich auf seinen Armen in sein Haus. Und nachdem er mich gewaschen und meine Wunden versorgt hatte, führte er mich zu seinem Vater, dem Bauern.
Der Bauer schien auf mich gewartet zu haben. Er freute sich, mich zu sehen.
Und dann sagte er so schöne Worte zu mir: Du bist nun eins meiner lieben Schafe. Habe keine Angst mehr. Ich will für dich sorgen.
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Ich fühle mich sehr glücklich. Ich darf in einem wunderschönen Stall wohnen. Nachts ruhe ich auf weichem warmen Stroh. Tags führt mich der Hirte auf saftige Weiden. Der Klee ist hier so duftig frisch, und das Wasser aus der Quelle, zu er mich täglich führt, schmeckt frisch und köstlich. Ich merke, wie neue Kraft in mir wächst.
Jeden Tag versorgt der Hirte meine Wunden. Sie schmerzen schon viel weniger. Und am Abend besuchen wir gemeinsam den Bauern. Ich freue mich schon immer den ganzen Tag darauf, ihn zu treffen. Das Haus, in dem er wohnt, ist prächtig. Und dann darf ich auf seinem Schoß sitzen und ausruhen. Und ich erzähle ihm von meinem Tag. Er hört mir zu, und ich glaube, er versteht mich sehr gut.
Ich bin so glücklich, hier beim Bauern und seinem Hirten wohnen zu dürfen.
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Ich habe inzwischen noch viele andere Schafe kennen gelernt, die auch dem reichen Bauern gehören. Nun gehen wir jeden Tag zusammen auf die Weide. Wenn wir losgehen, begleitet uns immer ein großer starker Hund. Erst hatte ich Angst, als ich ihn sah. Doch der Hirte erklärte mir, dass der Hund auch im Dienst des Bauern steht. Er leitet die ganze Herde, passt auf, dass keines der Schafe abhanden kommt. Er ist sehr klug. Der Hirte sagte, wir dürften uns seiner Führung anvertrauen, denn er kennt alle Wege und alle Gefahren. Und als ich einmal sah, wie der Hund uns sicher um eine tiefe Schlucht herumführte, die ich gar nicht gesehen hatte, war ich froh und dankbar, dass der Hirte uns diesen Hund auf unserem Weg mitgegeben hatte.
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Das Zusammensein mit all den anderen Schafen des Bauern ist schön. Ich spüre, dass ich nicht alleine bin. Ich brauche mich nie einsam zu fühlen. Wir lachen viel und erzählen und spielen.
Mittags, wenn wir im Schatten hoher Bäume ausruhen, genieße ich es besonders, neben mir das ruhige Atmen meiner Freunde zu genießen.
Wir haben einige Schafe unter uns, die leben schon lange hier, und ich glaube, dass sie sehr klug sind. Sie haben wohl schon viel gelernt. Sie erklären mir viel vom Leben hier beim Bauern. Dann komme ich mir noch ein bisschen sehr unerfahren vor. Aber ich habe ja Zeit, auch viel zu lernen. Deshalb höre ich ihnen gerne zu. Ich will ja schließlich auch so klug werden wie sie. Und ich möchte, dass mein Hirte sich über mich freuen kann, und natürlich auch der Bauer. Er soll stolz auf mich sein dürfen.
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Heute war ich sehr müde. Ich blieb nach dem Mittagsschlaf im duftenden Gras liegen. Ich wollte mich ausruhen. Ich dachte an meinen Hirten, an seine liebe Art, mich anzuschauen. Ich hörte in mir auch die wunderschöne Musik, die im Haus des Bauern ist. Abends, als die anderen Schafe von ihrer Weide zurückkamen, ging es mir schon viel besser. Ich freute mich, sie wiederzusehen und lief ihnen entgegen. Doch eines der klugen Schafe kam auf mich zu und schien sehr verärgert zu sein. Es sagte zu mir, dass es nicht richtig von mir gewesen sei, mich auszuruhen. Ich solle immer genau dahin gehen, wohin sie uns führen würden.
Ich schämte mich. Bestimmt hatten sie recht. Sie waren doch viel klüger als ich. Nun würde vielleicht sogar der Bauer auf mich böse sein.
Schnell versprach ich, in Zukunft besser auf sie zu hören und mich immer da aufzuhalten, wo sie sind.
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Heute habe ich von Ferne eine schwarzen Wolf gesehen. Der Hirtenhund hat sehr aufgepasst. Er hatte ihn schon eher als ich gesehen. Und ich konnte beobachten, wie er mutig und entschlossen dem Wolf entgegentrat. Irgendwann verschwand der Wolf auch. Der Hund ist wirklich sehr stark.
Aber weil ich den Wolf gesehen hatte, stiegen in mir Erinnerungen auf. Ich dachte an die Zeit, bevor ich Eigentum des Bauern wurde. Da hatte ich nämlich auch Wölfe getroffen. Zuerst erkannte ich sie gar nicht. Da sahen sie so lieb und harmlos aus. Ich glaubte sogar, eine Zeitlang, dass sie meine Freunde seien. Später haben sie mir sehr wehgetan. Sie bissen und schlugen mich. Nur gut, dass der Hirte mich dann bald gefunden und meine Wunden versorgt hat.
Heute nun aber habe ich mich an jene schlimme Zeit erinnert. Ich wurde sehr traurig und wollte gar nichts fressen.
Als die klugen Schafe es bemerkten, wurden sie zornig. Blökten alle auf mich ein, ich sei undankbar, und ich solle doch nicht so selbstmitleidig sein. Diese alten Zeiten seien doch ein für allemal vorbei.
Ich glaube, sie haben recht. Ich muss versuchen, diese Erinnerungen wegzuschieben. Sie haben in meinem neuen Leben nichts zu suchen. Hoffentlich ist der Hirte nicht schon wieder traurig über mich. Ich muss mir einfach mehr Mühe geben, ihm zu gefallen.
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Heute hatte ich ein eigenartiges Gespräch mit einem der klugen Schafe. Ich habe es zufällig getroffen. Aber vielleicht war es gar kein Zufall, denn es sprach so konkret und direkt zu mir, als hätte es auf mich gewartet. Es sagte es zu mir, dass der Hirte ihm eine Botschaft gegeben habe, die mich betreffen würde. Er zeigte auf ein Schaf in einiger Entfernung. Ich glaube, dass es Max heißt. Und das kluge Schaf sagte, der Hirte habe ihm gesagt, ich solle Max heiraten. Das sei sein Wille für mein Leben. Ich erschrak. Es ist nämlich so: Seit einiger Zeit beobachte ich ein schönes starkes Schaf. Ich habe es schon einigemale an unserer Wasserquelle getroffen. Ich finde dieses Schaf wunderschön. Und ich bin mir fast sicher, es mag mich auch. Wir haben uns sogar schon unterhalten, und eines Abends hat es mir einen saftigen Büschel Klee geschenkt mit einer Butterblume darin. Ich bin ein wenig verlegen gewesen, aber dann haben wir beide gelächelt und lagen noch lange nebeneinander in der Abendsonne.
Nun will wohl der Hirte, dass ich Max heirate. Ich darf ihn ja nicht enttäuschen. Er hat so viel für mich getan. Da will ich nicht ungehorsam sein. Und wenn er extra meinetwegen das kluge Schaf mit dieser Botschaft zu mir geschickt hat, muss ihm wohl viel daran gelegen sein.
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Heute habe ich mich sehr geschämt. Ich bin inzwischen Mutter und habe drei wunderschöne Lämmer. Sie sind sehr lebhaft und kerngesund. Nur machen sie manchmal in ihrem Übermut Streiche. Das ärgert die anderen Schafe.
Drei der klugen Schafe kamen heute deswegen zu mir. Sie waren voller Zorn und schimpften auf mich ein. Ich solle dafür sorgen, dass meine Lämmer sich gefälligst an die Regeln halten und sich ordentlich aufführen. Sie drohten mir sogar, dass ich mitsamt meinen Kinder die Herde verlassen müsse, wenn sich die Sache nicht bessern würde. Ich bekam einen großen Schreck und wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Was wird der Bauer von mir und meiner Familie denken, wenn er von der Sache erfährt?
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Ich bin es nicht wert, zur großen Herde des reichen Bauern zu gehören. Ich bin einfach zu dumm und schwach. Die klugen Schafe haben recht. Sie haben viel Ärger mit mir. Alle Fehler, die sie mir vorgeworfen haben, heute, als wir zusammen sassen, treffen zu. Obwohl ich schon lange ihren Rat befolgt hatte, täglich dreimal alle Regeln und Ordnungen zu lesen, die so wichtig sind für das Leben hier auf dem Hof des reichen Bauern, kann ich sie einfach nicht alle halten. Immer wieder mache ich etwas falsch. Ich verstehe, wenn sie jetzt so zornig auf mich sind. Und sie haben recht, der Bauer kann mich nicht lieben. Immer wieder enttäusche ich ihn. Der Hirte hatte gewiss große Hoffnungen in mich gesetzt, nachdem, was er für mich getan hat. Aber ich mache ihn traurig.
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Ich liege auf der Weide. Aber nicht zusammen mit den anderen Schafen des Bauern. Ich habe mich ganz an den Rand gelegt. Ich fühle mich schrecklich. Ich bin ein Versager.
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Hinter meinen geschlossenen Augen spüre ich, wie jemand sich über mich beugt. Ich blinzele vorsichtig, und da sehe ich direkt in das Gesicht des Hirten. Was will er von mir? Ich habe ihn schon lange nicht mehr getroffen. Ich hatte ja auch gar keine Zeit. Ich war so damit beschäftigt, den klugen Schafen nicht so viel Ärger zu machen.
Nun wird der Hirte wohl seinem Zorn über mich Luft machen. Vielleicht bringt er mich weg von hier? Oder er bringt mich zu seinem Vater, damit ich meine gerechte Strafe empfange. Ich habe Angst.
Der Hirte kniet neben mir nieder. Lange Zeit sagt er nichts. Nur seine große Hand hat er auf meinen Kopf gelegt und mit der anderen streicht er vorsichtig durch mein Fell. Ich schließe meine Augen wieder. Ich spüre, wie meine Angst weniger wird. Ich möchte mich entschuldigen bei ihm, ihm erklären und sagen, wie ich all meine Fehler bereue. Doch als ich meine Lippen gerade öffne, spüre ich etwas Feuchtes auf meinem Gesicht. Ich schaue den Hirten an, und da sehe ich, dass er weint. Er weint. Und dann beginnt er zu sprechen.
Er sagt, dass er traurig ist, aber nicht über mich, nein, er ist traurig über die klugen Schafe. Er hat ihnen vertraut. Sie sollten ihm helfen, seine Schafe zu hüten, sollten seine Liebe an andere Schafe weitergeben. Ihnen helfen, wo sie noch schwächer oder unerfahrener gewesen seien als die Schafe, die den Bauern schon lange kennen. Doch diese klugen Schafe haben sein Vertrauen missbraucht. Sie haben seinen geliebten Kleinen wehgetan. Und deshalb sei er sehr sehr traurig.


Dann hat er mich mit seinen starken Armen aufgehoben und nach Hause getragen. Wie damals, als ich ihn gerade erst kennen gelernt hatte, hat er mich gepflegt. Auch zum Vater hat er mich wieder jeden Tag geführt. Und irgendwann hat er zu mir gesagt, ich dürfe immer in dieser engen Gemeinschaft mit ihm bleiben, und er selbst würde mich lehren, was ich wissen muss.
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Inzwischen habe ich noch einige andere Schafe kennen gelernt, die der Hirte heimgetragen hat. Sie hatten auch den klugen Schafen vertraut. Und sie sind auch enttäuscht und verletzt hier angekommen. Um jedes Einzelne hat sich mein Hirte liebevoll gekümmert. Wir sind noch schwach, manchmal weinen wir gemeinsam, wenn wir uns an die Dinge erinnern, die uns die klugen Schafe gesagt haben und spüren ließen. Aber wenn wir den Hirten sehen und die Arme des reichen Bauern spüren, dann ist dies nicht mehr so wichtig. Dann wird es hell im Herzen.
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Heute hat der Hirte etwas sehr Überraschendes gesagt: Er sagte, dass die klugen Schafe gar nicht klug seien. Im Gegenteil, sie seien sehr dumm und sogar böse. Sie wollen nämlich nicht wahrhaben, dass sie eines Tages vor dem Bauern stehen werden, und er wird sie nach all den Dingen fragen, die sie seinen anderen Schafen angetan haben. Und ich glaubte zu spüren, wie zornig der Hirte dabei war.