Der heilsame Riss

von Christian Möller

Textauszug

  Hirtenwort und Türwort Jesu wollen in der rechten Beziehung zueinander verstanden werden und in der metaphorischen Qualität gebraucht werden.

  Bei der Tür geht es um die Höhlenpforte, in die der Hirte abends, kurz vor Sonnenuntergang, die Herde hineintreibt, um sie vor den in der Dunkelheit herumstreunenden Wölfen und anderen wilden Tieren in Sicherheit zu bringen. Dann legt sich der Hirte selbst vor die Höhlenpforte und ist selbst die Tür, von der gilt: Nur über meine Leiche hinweg ist an die Herde heranzukommen. So verweist die Metapher der Tür direkt an die andere Metapher des Hirten, die dann freilich noch im Sinne von Psalm 23 weitergeführt wird im Blick auf den Hirten, der für seine Herde Weide sucht und sie auf grüne Auen führt. Schließlich kommt am Ende von Johannes 10 noch eine ganz elementare Beziehung zwischen Hirte und Schafe in den Blick, dass nämlich die Schafe ein untrügliches Gehör für die Stimme ihres Hirten haben.


  Was macht nun einen Menschen zum Hirten, so dass er zum Pastor tauglich wird? "Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Der aber zur Tür hineingeht, der ist der Hirte der Schafe. Dem macht der Türhüter auf und die Schafe hören seine Stimme, und er ruft seine Schafe und führt sie hinaus. Und wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach, denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht." ( Joh. 10,1 ff)


  Hier wird der Dienst des Pastors nicht nur partnerzentriert verstanden, sondern christuszentriert. Einem Menschen in Christus begegnen, heißt in der Bildsprache von Joh. 10, nicht wie ein Dieb oder Räuber auf irgendwelchen krummen Touren einzusteigen, wie es die Seelenfummler und Menschenfresser tun, die sich mit leiser Stimme einschleichen und einschleimen. Es heißt vielmehr, ganz offen zur Tür hineinzugehen, welche Christus selbst ist. Wer zu dieser Tür hineingeht, der ist der Hirte der Schafe. In Christus einem Menschen zu begegnen, heißt also nicht, ihn mit irgendwelchen christlichen Parolen zu überfallen, sondern den anderen als einen immer schon von Christus beschützten und geschützten Menschen zu verstehen, weil auch für ihn jener gute Hirte sein Leben gelassen hat. Christuszentriert einem Menschen zu begegnen heißt, dem anderen zuzutrauen, dass er in, mit und unter seinen Worten die Stimme seines guten Hirten wiedererkennt. Und wenn er das nicht vermag, so geht das zu Lasten des Hirten und stellt ihn in Frage, ob und inwiefern sein gut gemeinter Hirtendienst noch in Beziehung zum wahrhaft guten Hirten und dessen hörbarer Stimme steht.


  Das Amt der Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung hilft dem Pastor dazu, die Tür zu beachten, die zu den Schafen führt und nicht hinterrücks an irgendeiner anderen Stelle, vielleicht mit guter Meinung und bester Absicht, einzusteigen, sondern frei, öffentlich und vollmächtig durch die Tür einzutreten, die Christus selbst ist. So kann ein Pastor den Menschen christuszentriert begegnen. Das geistliche Amt hilft ihm dazu, die vielen anderen, die auf private Weise Hirten und Hüter ihres Nächsten sind, auf diese Tür aufmerksam zu machen, die den Menschen vor den reißenden oder schleichenden Wölfen schützt.


  Kann aber nicht auch ein Pastor so schwach, so verloren oder verirrt sein, dass er mehr einem Schaf als einem Hirten gleicht? Das zuzugeben und auch zuzulassen könnte für einen Pfarrer bedeuten, dass er durchlässig wird für die Hut eines wahrhaft "guten Hirten", auf den auch und gerade er selbst als Pastor angewiesen ist. Es könnte zugleich für die Gemeinde bedeuten, dass aus ihrer Mitte Menschen aufstehen, die auf ihre Weise Hirten und Hüter ihres Pastors werden und ihr "Pastorenschaf" aufsammeln und so aufrichten, dass er wieder in die Lage versetzt wird, das öffentliche Amt des Pastors für die ganze Gemeinde wahrzunehmen.

Quelle: "Der heilsame Riss" von Christian Möller, erschienen im Calwer Verlag