Bericht von Anja

(Name geändert)



Ich weiß, daß ich über meine Erfahrungen schreiben soll, damit andere Menschen es lesen und vielleicht irgendwie etwas daraus nehmen können. Es fällt mir unsagbar schwer, dies jetzt zu tun, ich weiß auch nicht, ob ich die richtigen Worte finden werde, um meine Gedanken auszudrücken. Ich kann es nur tun, weil ich jetzt nicht dem Menschen gegenübersitze, dem ichs sage, weil ich allein bin und schreiben ist meine einzige Chance, reden geht nicht.

Ich weiß nicht, wo ich jetzt beginne. Also ich glaube an Jesus, und ich bin ja in der DDR aufgewachsen. Und nach der Wende haben mein Mann und ich erkannt, daß die "normale" evang. Kirche, in der wir waren, nicht das volle und ganze Evangelium für uns bereit hat, wir waren auf der Suche nach mehr und sind dann dort ausgetreten und in eine freie Gemeinde rein. Es lief gut, ich habe den Lobpreis und die Anbetung gelernt, ich hab mich wohlgefühlt.

Die ersten Jahre (von 1997 an) lief es ganz gut, wenn ich auch immer irgendeine Angst in mir hatte, den Anforderungen dort nicht gerecht zum werden. Ich konnte nicht alle Veranstaltungen besuchen, von denen es fast täglich eine gab, weil ich zwei Kinder zubetreuen hatte, Arbeiten ging und wir in der Zeit ein Haus umgebaut haben. Ich habe oft gespürt, daß in der Gemeinde die Meinung herrschte, wer den Herrn liebt. "schaufelt sich frei" für diese Veranstaltungen. Und ich wurde auch angesprochen, warum ich irgendwo nicht mit dabeiwar und so. Ich bekam Angst, wenn es einen neuen Gemeindebrief gab und ich die Menge der Konferenzen und so sah, ich war ständig am Überlegen und so. Aber ich lebte damit, mein Mann sah das lockerer, und die Gottesdienste haben auch mir Kraft gegeben.

Nun war es im Frühjahr 2001, da griff Jesus in mein Leben ein. Er zeigte mir, daß in mein Leben Ordnung kommen muß. Er machte mir deutlich, daß ich nur mit Masken rumlaufe. Nach außen hin immer fröhlich, immer freundlich, immer gut drauf. Aber innen sah es anders aus. Ich erlebte sehr schwere Wochen, in denen ich das erste Mal in meinem Leben mit jemanden über meine Vergangenheit sprach und die Auswirkungen in die Gegenwart. Es ging um den sM in meiner Kindheit (ich will die Worte nicht ausschreiben), und um die daraus resultierenden Folgen. Ich kämpfte seit Jahren mit Angst, mit Magersucht, mit krankhaftem Perfektionismus, mit Zwangsvorstellungen, ich bin absolut kontaktscheu und, und und. Auch meine Arbeit mußte ich aufgeben.Immer mehr wurde mir deutlich, wie es eigentlich in meinem Leben aussah. Ich hatte viele Gepräche mit einer Frau aus der Gemeinde, die sehr einfühlsam und lieb war, und das erste Mal hatte ich Hoffnung, daß das in Ordnung kommen kann und ich nicht so leben MUß. Es wsar das erste Mal, daß ich mich jemanden geöffnet habe, wenn ich auch vieles nur aufschreiben konnte für sie, weil ich die Worte nicht aussprechen konnte.Ich sah in dieser Zeit sehr schlecht aus, und in der Gemeinde machte es die Runde, daß etwas nicht stimmt. Die Frau unseres Gemeindeleiters war nun der Meinung, ich muß zu IHR in die Seelsorge kommen, und ich soll IHR alles erzählen. Aber das konnte ich nicht. Diese Frau des Gemeindeleiters hat eine Art, die mich sehr an meine Kindheit erinnert, sie schreit oft rum, redet schlechte Worte, schnauzt die Leute an und so. Ich wollte nicht mit ihr reden. Und mein Mann hat ihr das gesagt, weil ich konnte nicht ihr gegenübertreten.

Das wurde nicht akzeptiert, und nun gab es Gottesdienste, da wurde "durch die Blume" über diese Dinge gesprochen, meine Seelsorgerin wurde dargestellt, als stelle sie sich in den Mittelpunkt und versuche, die Leute an sich zu ziehen. Es wurde immer betont, daß die Predigt ja allgemein sei und niemand gemeint sei, aber alle wußten es, wer gemeint sei und drehten sich nach mir um.

Plötzlich erkannte ich, wieviel Dinge da in der Gemeinde liefen. Meine Seelsorgerin trat aus der Gemeinde aus, und es wurde in Gemeindeveranstaltungen gesagt, Kontakte zu Personen, die die Gemeinde verlassen, seien sofort abzubrechen. Das wurde auch kontrolliert, und ich wußte gar nicht mehr, was ich tun sollte. Ich hatte geglaubt, daß es gut gewesen sei, was ich da mit dieser Frau gebetet hab und so, aber es wurde dann gesagt, daß eine Seelsorge nicht lange zu dauern hat, daß es nicht sein kann, daß so etwas wochenlang dauert, und überhaupt sei Seelsorge halt nicht so wichtig. Man soll zur Gemeindeleitung gehen und kurz schildern, worum es geht, dann greift der Herr ein und es muß vorbei sein. Und eigentlich sei nur im Lobpreis Heilung zu erwarten. Mir fällt jetzt nicht mehr alles ein, Jörg, ich kann nicht alles aufschreiben. Es gab furchtbare Anrufe und ich konnte nicht reden. Für mich brach damit erneut alles zusammen. Im Sommer mußte ich ins Krankenhaus, weil ich operiert werden mußte, ich kämpfte danach wieder mit Selbstmordgedanken, spürte Angst vor der Zukunft, wenn ich an die Gemeinde dachte.

In meinem Kopf herrscht seitdem ein Durcheinander. Immer mehr brach alles zusammen, Leute traten aus, Leute kamen dazu, ständig gab es Probleme.

Ich habe mich inzwischen zurückgezogen, nicht nur aus der Gemeinde, ich bin in vielen Dingen wieder gefangen in meinen alten Zwängen, habe keine Kontakte mehr zu anderen Christen, und es fällt mir sehr schwer, zu beten und in der Bibel zu lesen. Die Vergangenheit holt mich ein, ich spüre viel Dunkelheit um mich. Ich habe auch Angst, was noch alles kommt, und trotzdem hatte ich mich gestern aufgemacht, mal im Internet zu suchen und bin halt auf deine Seite gekommen. Ich weiß nicht, ob das jetzt alles verständlich ist, was ich geschrieben habe, ob es für igendjemand einen Sinn hat.

Fast zeitgleich zu der Sache mit meiner Seelsorge mit B. begann in der Gemeinde noch etwas anderes. Bis dahin wurde oft gepredigt, daß halt Jugendliche vor der Ehe "sauber" bleiben sollen, da heißt also keinen Sex haben dürfen und so. Das ist mir auch klar, steht ja in der Bibel. Nun wurde das aber plötzlich anders ausgelegt. Es hieß, Jugendliche unter 18 Jahren dürfen keine Beziehung haben, in keinster Weise also. Zu der Zeit hat mein großer Sohn, der damals knapp 17 war ein Mädel aus der gleichen Gemeinde bei einer Freizeit näher kennengelernt und sich in sie verliebt. Die beiden haben ganz von sich aus sofort den Jugendleiter informiert, ihm das erzählt und gesagt, daß sie regelmäßig gemeinsam beten wollen, um zu erkennen, ob sie vom Herrn füreinander geschaffen seien, also ob sie füreinander bestimmt sind. Und natürlich ist Sex vor der Ehe tabu, die zwei haben sich die ersten Monate nicht einmal geküßt. Lediglich SMS geschrieben, telefoniert oder mal spazieren. Die zwei haben ein sehr offenes Verhältnis auch zu mir, wir konnten so gut miteinander über alles reden.

Als das in der Gemeinde "bekannt" wurde, ging ziemlich was los. Es gab sehr böse Telefonate, besonders mit dem Mädel, sie müsse sich entscheiden, entweder Jesus oder diese Beziehung. Sie kann den Herrn gar nicht lieben, wenn sie an dieser Stelle so ungehorsam ist, die Gemeinde hat das vom Herrn gezeigt bekommen, die Grenze ist 18, vorher keinerlei Kontakt. Die beiden durften sich in den Gottesdiensten nicht nebeneinandersetzen, bei den Jugendabenden nicht miteinander reden, mein Sohn durfte keine Gitarre mehr berühren und das Mädel mußte ihre bis dahin mit Hingabe übernommenen Dienste (Folienlegen beim Lobpreis, Kinderdienst u.a.) abgeben . Sie sei nicht mehr würdig, diese Dienste zu tun.

Man wollte auch mit uns Gespräche, aber ich war einfach nicht in der Lage, über diese Dinge zu diskutieren. Ich war ohnehin durch das Vergangene total enttäuscht und verunsichert, und nun ein neues Problem mit Sätzen wie, daß es ohnehin vorprogrammiert sei, wenn zwei sich so zusammenfinden, landen sie sowieso spätestens nach ein paar Wochen im Bett.

Wir haben gesagt, daß wir nicht diskutieren, daß wir die Beziehung von unserer Seite aus nicht unterbinden, daß wir aber offen mit den Kindern drüber reden und den Eindruck haben, daß die es ernst meinen und nicht in Sünde leben wollen.

Es gab darüber keine Ruhe, in den Predigten wurde es erwähnt und angedeutet, daß wir alle Eltern verstockt seien und mit uns kein Gespräch möglich sei. Andere Jugendliche mieden unseren Sohn mit seiner Freundin bei den Veranstaltungen, sie wurden ständig beobachtet und auf ihr falsches Verhalten hingewiesen.

Begründet wurde das ganze auch mit einer Erkenntnis, die ein "großer Mann Gottes" bekommen habe.

Das Schlimme an der ganzen Sache wurde schließlich, daß die beiden jungen Leute sich nach und nach zurückgezogen haben, ich befürchte nicht nur von der Gemeinde, sondern auch vom lebendigen Glaubensleben. Unser jüngerer Sohn hat das Ganze auch mitbekommen, ich spüre ihre Enttäuschung und es hat allen sehr geschadet.

Die beiden sind bis heute zusammen, sind beide 18 geworden, und sie haben bisher keinen Sex. Ich kann nichts Böses an ihrer Beziehung finden, konnte es noch nie finden. Ich war so froh, daß unser Sohn sich eine gläubige Freundin "gesucht" hat, dachte, daß auch die Gemeinde sich drüber freut und sie in ihrem guten Vorsatz, "sauber" zu bleiben, unterstützen würde. Aber es kam halt ganz anders.


November 2004